Kooperation von Grundlagenforschung und High-Tech-Industrie trägt Früchte - Max-Planck-Institut für Biochemie und Infineon Technologies AG präsentieren industriell entwickelten Neuro-Chip / Anwendung in Neurowissenschaften und Pharmaentwicklung
Nervensystem und Computer funktionieren elektrisch. Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Biochemie arbeiten deshalb seit Jahren an der Frage, wie man beide Systeme direkt miteinander vernetzen könnte. Im Jahr 1991 setzten sie erstmals eine Nervenzelle von einem Blutegel auf einen Siliziumchip, und ein Transistor fing die von der Zelle ausgesandten Signale auf. 1995 gelang dieses Experiment dann auch in der Gegenrichtung: Eine Zelle wurde über einen Chip mit elektrischen Impulsen gereizt und antwortete darauf mit Aktionspotentialen, die als Signale gemessen werden konnten. Für ihre Experimente bauten die Wissenschaftler bisher ihre Computerchips selbst und konnten die Signale von lebenden Nervenzellen und Zellverbänden messen und an ein Computersystem weitergeben. Jetzt hat die Zentrale Forschungsabteilung von Infineon Technologies AG in enger Kooperation mit den Max-Planck-Wissenschaftlern um Prof. Peter Fromherz einen Biosensor-Chip mit rund 16.400 Sensoren vorgestellt. Der Neuro-Chip eröffnet neue Einblicke in die biologische Funktion von Nervenzellen, neuronalen Netzen und Hirngewebe.
Seit mehreren Jahren arbeitet die Abteilung Membran und Neurophysik des Martinsrieder Max-Planck-Instituts für Biochemie mit Forschern der Infineon Technologies AG an der Entwicklung und industriellen Realisierung hochintegrierter Sensorfelder. Die Grundlagenforscher hatten bisher einen Chip mit einer linearen Anordnung von 128 Sensoren (Transistoren) selbst hergestellt. Bei dem neuen, von Infineon Technologies AG in enger Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Biochemie entwickelten Biosensor-Chip sind die Sensoren jetzt zweidimensional angeordnet. Insgesamt befinden sich auf einem Quadratmillimeter Chipfläche 128 x 128 Sensoren, also insgesamt 16.384. Dieser neue auf der Basis einer erweiterten CMOS (Complementary Metal Oxide Semiconductor)-Technologie eröffnet insbesondere in den Neurowissenschaften vielversprechende Möglichkeiten. Jetzt ist es möglich, die elektrischen Signale sowohl von einzelnen Nervenzellen, den so genannten Neuronen, als auch von zusammenhängende Neuronenverbänden in bislang unerreichter Genauigkeit aufzunehmen und zu verarbeiten.
Wie schon bei dem in Martinsried entwickelten Chip erfolgt das Messen der neuronalen Signale der Nervenzellen auf dem Chip über Sensoren. Die zu untersuchenden Nervenzellen werden dazu direkt auf dem Sensorfeld am Leben gehalten und können dort wieder zu neuronalen Netzen zusammenwachsen. Im Gegensatz zu klassischen Methoden der Neurophysiologie werden die Zellen auf dem Neuro-Chip durch die Messungen nicht gestört oder verletzt. Doch anstatt wie bislang einzelne Zellen sequentiell zu untersuchen, kann der neue Neuro-Chip auf seinem Sensorfeld mehrere Zellen parallel vermessen. Jede aufgebrachte Nervenzelle liegt dabei auf mindestens einem Sensor. Dieser verstärkt und verarbeitet die extrem schwachen elektrischen Signale (maximal 5 Millivolt) der Zelle. "Infineon nutzt bei der Forschungsarbeit das Wissen aus der Siliziumtechnik eines halben Jahrhunderts. Was zum Beispiel das Verhältnis von Signal- und Rauschgrößen betrifft, arbeiten wir beim Neuro-Chip eng an der Grenze dessen, was theoretisch überhaupt möglich ist", sagt Dr. Roland Thewes, der bei Infineon in der Grundlagenforschung die Entwicklung elektronischer Biochips leitet. Der Abstand zwischen den Sensoren (acht Tausendstel Millimetern) ist kleiner als der Durchmesser eines Neurons (zehn bis 50 Tausendstel Millimeter). Jeder Sensor kann mindestens 2.000 Werte pro Sekunde aufzeichnen, die in ihrem zeitlichen Verlauf als farbiges Gesamtbild dargestellt werden. Die Forscher können damit erkennen, wie vollständige Zellverbände über einen festgelegten Zeitraum auf elektrische Stimulation oder bestimmte Substanzen reagieren.
Von der Innovation versprechen sich die Wissenschaftler vor allem neue Erkenntnisse über das Miteinander der mehr als 100 Milliarden Nervenzellen in unserem Gehirn. Deshalb arbeitet die Arbeitsgruppe um Prof. Peter Fromherz seit einiger Zeit mit Prof. Tobias Bonhoeffer und seinen Mitarbeitern im benachbarten Max-Planck-Institut für Neurobiologie zusammen. Die jetzt mögliche störungsfreie Beobachtung von intaktem Nervengewebe über einen längeren Zeitraum bietet den Neurobiologen kontinuierlichen Einblick in die Abläufe von Lernvorgängen und Gedächtnis. Durch den Neuro-Chip können aber auch neue Erkenntnisse zum Verständnis der Wahrnehmung, der Verarbeitung und Speicherung von Informationen im Gehirn gewonnen werden. Um beispielsweise die Wechselwirkungen zwischen Zellen verschiedener Hirnareale zu untersuchen, können einzelne Nervenzellen oder intakte Gehirnschnitte auf den neuen Chip aufgebracht werden und auf der Sensorfläche miteinander zu neuronalen Netzen verwachsen. Das Zellgewebe bleibt unverletzt und kann über mehrere Wochen am Leben gehalten werden. Die Erforschung des Zusammenwirkens der Nervenzellen im gesamten Gehirn ist wiederum ein wichtiger Schritt, um eines Tages den heute noch unheilbaren Krankheiten des Gehirns besser begegnen zu können.
Mit einfachen Siliziumchips ist es den Max-Planck-Wissenschaftlern in der Vergangenheit gelungen, Nervenzellen von Ratten und Schnecken zu stimulieren und die Aktivität der Nervenzellen auch abzuleiten. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse wurden nun an dem neu entwickelten Neuro-Chip angewendet. Schon im ersten Anlauf konnte die Nervenaktivität von den Hirnzellen einer Schnecke erfolgreich aufgenommen werden. Im nächsten Schritt geht es darum, auch die Stimulation der Nervenzellen auf dem neuen Chip zu realisieren. Professor Peter Fromherz kommentiert aus Sicht der Bio-Physiker: "Hier geht ein Traum in Erfüllung, dass unsere langjährige Grundlagenforschung über hybride Neuron-Halbleiter-Systeme nun in einen High-Tech-Chip einmündet. Die gemeinsame Entwicklung des neuen Neuro-Chips ist ein hervorragendes Beispiel der geglückten Zusammenarbeit zwischen Grundlagenforschung und industrieller Entwicklung. Die ungewöhnliche Bereitschaft der Forscher von Infineon Technologies AG, sich auf eine langfristig angelegte Entwicklungsarbeit einzulassen, zahlt sich nun aus." Die Sensibilität des Unternehmens, die Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung aufzunehmen, haben es ermöglicht, ausgehend von der "Eigenbau-Produktion" des Max-Planck-Instituts ein Werkzeug mit bislang ungeahnter Performance für Biomedizin, Biotechnologie und Hirnforschung zu entwickeln. "Die Voraussetzung dafür waren speziell zugeschnittene schaltungstechnische Lösungen", so Fromherz. Vor allem in der Diagnostik könnte der Chip eingesetzt werden. Dass allerdings ein ins Gehirn eingesetzter Neurochip die menschliche Intelligenz oder die Gedächtnisleistung verbessern oder gar eine Steuerung des Gehirns durch den Computer ermöglichen könnte, davon hält Fromherz überhaupt nichts. "Dies ist schlichtweg Science-Fiction".