Technische Revolution mit „Oldtimern“ der Evolution

Philip Morris-Forschungspreis 1993 für Max-Planck-Wissenschaftler / Molekulare Fotozelle von Halobakterien liefert Filmmaterial mit außergewöhnlichen Eigenschaften

September 05, 1993

Halobakterien, die in konzentrierten Salzlösungen leben, speisen ihren Energiehaushalt mittels einer lichtbetriebenen molekularen „Protonen-Pumpe“ – einem Photosynthese-Apparat, den die Evolution gewissermaßen „vergessen“ hat. Jetzt kommt dieser biologische Lichtwandler, das Bakteriorhodopsin, als High-Tech-Material zu neuen Ehren: Es liefert Filme, die sich immer wieder löschen und belichten lassen und die neue Techniken zur Verarbeitung optischer Informationen eröffnen. Erschlossen wurden diese Möglichkeiten von Prof. Dieter Oesterhelt, Direktor am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München, in Zusammenarbeit mit Prof. Christoph Bräuchle und Dr. Norbert Hampp vom Institut für Physikalische Chemie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Den drei Wissenschaftlern wurde für ihre Arbeiten der Philip Morris-Forschungspreis 1993 verliehen.

Vor rund 15 Jahren wurde mit den sogenannten Archaebakterien ein drittes eigenständiges Ur-Reich des irdischen Lebens entdeckt: Es umfaßt Organismen, durchwegs Einzeller, die seit der frühen Evolution in engen, extremen Lebensnischen verharrt haben, während sich die beiden anderen, fortschrittlichen „Modellreihen“ des Lebens, die Eubakterien und Eukaryonten, sehr viel freizügiger entfalten konnten.

Archaebakterien hausen meist an Orten, an denen man Leben gar nicht vermutet. Man findet sie in kochendheißen Vulkanquellen, in schwelenden Kohlenhalden, in sauren Schwefelbrühen oder in hochkonzentrierten Salzlösungen: in Biotopen also, die an die Urzeit erinnern, als die Erde noch wüst und leer war. Und weil sie unter derart archaischen Bedingungen leben, taufte man diese Sonderlinge Archaebakterien.

Auch der Stoffwechsel der meisten Archaebakterien mutet recht vorsintflutlich an. Sie nähren sich, da sonst kein Leben um sie herum gedeiht, rein autotroph, das heißt allein von anorganischen Substanzen, und speisen ihren Energie- und Stoffhaushalt beispielsweise aus Kohlendioxid, Wasserstoff, Schwefel oder Schwefelwasserstoff.

Eine gewisse Ausnahme macht nur eine Gattung der Archaebakterien, nämlich die Halobakterien leben, so etwa in Salinen, im Großen Salzsee in Utah oder in Strandlagunen. Diese „Salzbakterien“ betreiben Photosynthese, ähnlich den Pflanzen des Eukaryonten-Reichs: Sie wandeln Sonnenlicht in elektrochemische und damit biologisch verfügbare Energie um, mit der sie dann aus einfachen Bausteinen komplizierte Eiweiß-Verbindungen – „Bio-Moleküle“ – aufbauen.

Wie die Halobakterien das bewerkstelligen, hat Prof. Dieter Oesterhelt, Direktor am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München, in langjährigen Forschungen untersucht und aufgeklärt. Dabei stellte sich zunächst einmal heraus, daß Halobakterien und Pflanzen, was die Photosynthese angeht, nicht etwa voneinander abgeguckt haben. „Vielmehr“, so dazu Oesterhelt, „hat die Evolution den grundlegenden Prozeß der Photosynthese zweimal erfunden: einmal bei den Eubakterien, über die diese Technik dann auf Algen und grüne Pflanzen kam, und einmal bei den Archaebakterien, eben den Halobakterien – denen vermutlich auch das ältere Patent für diese Erfindung zusteht. Doch davon abgesehen, ging es im einen wie im anderen Fall um ein- und dasselbe Kernproblem: um die Konstruktion eines Moleküls oder Molekülverbunds, der Sonnenlicht ‚einfangen‘ und dessen Energie so umwandeln konnte, daß sie den Organismen und ‚Lebensenergie‘ zur Verfügung steht.“

Die pflanzliche Ausführung dieses molekularen Energiewandlers kennt jedermann zumindest dem Namen nach. Es ist das Chlorophyll oder auch „Blattgrün“, das Pflanzen

befähigt, Sonnenenergie elektrochemisch zu speichern, um damit aus Kohlendioxid und Wasser Zuckerverbindungen aufzubauen, die dann den Grundstoff für alle weiteren pflanzlichen Substanzen bilden.

Daß Halobakterien mit einem anderen Energiewandler aus Chlorophyll arbeiten, kann man bereits mit bloßem Auge erkennen. Denn im Unterschied zu Süßwassertümpeln, die durch Algen und deren Chlorophyll grün erscheinen, sind Salzlachen, in denen Halobakterien gedeihen, rot bis purpurn gefärbt – ein Zeichen dafür, daß die „Sonnenbakterien“ dieser Organismen andere Farbanteile des Lichts, also andere Wellenlängen der Sonnenstrahlung aufnehmen und für die Energiegewinnung nutzen.

Anstelle des Chlorophylls dient den Halobakterien das sogenannte Retinal als Lichtwandler – dasselbe lichtempfindliche Molekül, ein Abkömmling des Vitamins A, das in der Augen-Netzhaut der meisten Wirbeltiere und auch des Menschen den Sehrvorgang vermittelt. Bei den Halobakterien verkörpert das Retinal gewissermaßen das Herzstück eines Verbundmoleküls, des Bakteriorhodopsins, das jeweils einen feinen Kanal in der Membran der Bakterien bildet. In der Mitte dieser „Pore“ ist das Retinal aufgehängt und arbeitet dort als „Kolben“: Es fördert unter Lichteinwirkung Protonen – Wasserstoff-Ionen – durch den Bakteriorhodopsin-Kanal aus dem Inneren der Bakterienzelle nach draußen.

„Dadurch“, so Oesterhelt, „entsteht ein Gradient, ein Protonen-Konzentrationsgefälle zwischen innen und außen, und über die Membran hinweg wird ein elektrisches Potential aufgebaut. Der Vorgang gleicht ganz dem Laden einer Batterie. Das vom Retinal absorbierte Licht wird auf diese Weise in elektrochemische Energie umgewandelt und kann in dieser Form darin vom Bakterium genutzt werden.“

Struktur und Funktion dieser lichtbetriebenen molekularen Protonen-Pumpe wurden in der von Oesterhelt geleiteten Abteilung Membranbiochemie des Martinsrieder Max-Planck-Instituts im Detail aufgeklärt. Der entscheidende Prozeß besteht darin, daß das Retinal, sobald es ein Lichtquant absorbiert hat, seine Struktur geringfügig ändert – und dabei ein Proton, das es zuvor aus dem Innenraum der Bakterienzelle aufgenommen hat, nach der Außenseite der Membran hin abstößt: Danach schnappt das Retinal wieder in seine Ausgangsform zurück, holt sich ein neues Proton aus dem Innern, und das Ganze wiederholt sich. Genügend Licht vorausgesetzt, läuft dieser zyklische Prozeß rund 100mal in der Sekunde ab; etwa 20 Prozent des absorbierten Sonnenlichts werden dabei schließlich in elektrochemische Energie umgesetzt.

So ganz nebenbei macht das Retinal, während es seine Struktur ändert, aber auch noch einen Farbwechsel durch: Seine normalerweise violette Farbe schlägt kurzzeitig nach Gelb um. Dieser begleitende Effekt, hervorgerufen durch die Strukturänderung des Moleküls, ist für die Pumpfunktion nebensächlich – eröffnet aber, wie sich inzwischen herausgestellt hat, ungeahnte Möglichkeiten auf dem Gebiet der Verarbeitung und Speicherung optischer Informationen.

Die Idee, den Farbumschlag des Bakteriorhodopsins technisch zu nutzen, kam vor etwa fünf Jahren im Rahmen einer zufälligen Begegnung auf, die Oesterhelt mit Prof. Christoph Bräuchle und Dr. Norbert Hampp vom Institut für Physikalische Chemie der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität zusammenführte. Die Frucht dieser Idee, die daraufhin in interdisziplinärer Zusammenarbeit reifte, ist ein biologisches High-Tech-Material, das für die moderne optische Informations- und Bildverarbeitung etwa das bedeutet, was die lichtempfindliche Silberschicht für die klassische, fotografische „Bilddokumentation“ darstellt. Für die Entwicklung dieses in mehrfacher Hinsicht revolutionären Materials erhielten die drei Wissenschaftler in diesem Jahr den mit 50.000,- DM dotierten Philip Morris Forschungspreis.

„Ausgangspunkt unserer Arbeiten“, erklärt Oesterhelt, „war der an sich ‚zwecklose‘ Farbwechsel, den das Retinal neben der durch Licht ausgelösten Strukturänderung durchläuft. Dieser Farbumschlag von Violett nach Gelb geschieht jeweils in Stufen, also über einzelne Zwischentöne, entsprechend dem ‚ruckweisen‘ Formwechsel des Moleküls über mehrere, verschieden lang dauernde Zwischenschritte.“

Entscheidend war, daß die Funktion des Bakteriorhodopsins, sein Struktur- und Farbwechsel und Lichteinfall, auch dann voll erhalten bleibt, wenn man die Membran der Halobakterien isoliert – also den Bakterien sozusagen die „Haut“ abzieht. Das geht im Prinzip recht einfach: Man muß dazu Halobakterien, die man zuvor in einem salzigen Medium kultiviert hat, nur in reines Süßwasser werfen; sie platzen dann, und man kann die Membran-Fragmente, auf denen das Bakteriorhodopsin dicht gepackt in Form zweidimensionaler Kristalle vorliegt, einfach abfiltrieren.

Das Bakteriorhodopsin, das man so gewinnt, ist gegenüber äußeren physikalischen oder chemischen Einflüssen ungemein widerstandsfähig. Es altert und zerfällt nicht, und ob getrocknet oder in Lösung: es behält seine angestammte Funktion, reagiert also auf Lichteinfall mit einem zyklischen, etwa 100mal in der Sekunde ablaufenden Farbwechsel von Violett nach Gelb.

Man kann deshalb das Bakteriorhodopsin in dünner Schicht auf eine Glasplatte aufbringen und mit einer zweiten abdecken – und erhält damit ein ungewöhnliches „Filmmaterial“: auf ihm lassen sich mit Licht bis zu 100 Bildern pro Sekunde erzeugen, und zudem Bilder von höchster Feinheit. Denn die „Körnung“ der lichtempfindlichen Schicht, vorgegeben durch die dichte kristalline Packung der Bakteriorhodopsin-Moleküle, liegt weit unter der Wellenlänge des Lichts: Bis zu 5000 Linien pro Millimeter kann man auf diesem „Biofilm“ aufzeichnen, so daß die Grenzen der Informationsdichte allein von den verwendeten technischen Lichtquellen abhängt.

Diese Eigenschaften machen das Bakteriorhodopsin zu einem idealen Material, wo immer es um die rasche Aufzeichnung und Verarbeitung optischer Informationen von Bildern oder Mustern geht. Am eindrucksvollsten erweisen sich die Möglichkeiten dieses neuartigen Filmmaterials auf dem Gebiet der Holographie, eingesetzt in einem sogenannten holographischen Korrelator. Ein solcher Korrelator dient zum Vergleich von Bildern oder Mustern. Hier das Prinzip: Zwei mit Laserlicht übertragene Bilder, ein Such- und ein Vergleichsbild, werden in einer Ebene überlagert. In dieser Ebene entsteht dann eine Art „Geisterbild“, ein Muster aus hellen Punkten, erzeugt durch die wechselseitige Verstärkung oder Auslöschung der Lichtstrahlen, mit denen die Bilder vom Laser übertragen werden. In jedem dieser Punkte entsteht ein Hologramm, das die gesamte Bildinformation enthält. Dieses „Interferenzbild“ hielt man herkömmlicherweise auf normalen Filmmaterial fest. Nach dessen Entwicklung wurde das Punktmuster mittels Laserlicht sozusagen dechiffriert und der Bildvergleich vorgenommen.

Mit einem Bakteriorhodopsin-Film, den man in die Bildebene setzt, ist der Bildvergleich nun in Echtzeit möglich. Denn das auf ihm erzeugte holographische Bild läßt sich sofort mit einem geeigneten Lese-Laser abtasten und analysieren – und das ohne weiteres in der Hundertstelsekunde, nach der man bereits das nächste Bild auf dem Bakteriorhodopsin-Film aufzeichnen kann. Das heißt: Es lassen sich nun auch bewegte Bilder oder Muster analysieren oder auch auf Einzelbildern festgehaltene Informationen rasch nach bestimmten Gesichtspunkten durchforsten.

Der Bildvergleich selbst erfolgt dabei so, daß Übereinstimmungen zwischen Such- und Vergleichsbild als helle Punkte erscheinen. Es werden aber auch ähnliche Strukturen oder Muster bewertet, und zwar je nach dem Grad der Ähnlichkeit durch unterschiedliche Helligkeit. Der Bildvergleich geschieht also analog – und nicht, wie beim Einsatz von Computern, auf dem Umweg über die Digitalisierung und den nachfolgenden punktweisen Vergleich von Mustern.

Die „Sofortbild-Technik“ auf der Grundlage des Bakteriorhodopsins ist auch für die holographische Interferometrie von Vorteil, für Verfahren der zertörungsfreien Materialprüfung. Mit ihr lassen sich Verformungen von Bauteilen, von schwingenden Membranen oder Autokarosserien jetzt in Echtzeit verfolgen. Mit herkömmlicher Filmtechnik mußte man Tausende von Einzelbildern aufnehmen – mit Bakteriorhodopsin kann man kritische Zustände sofort aufspüren und gezielter analysieren. Zu diesen Vorzügen kommt noch ein weiterer faszinierender Aspekt des biologischen Filmmaterials: Man kann seine „Taktzeit“ innerhalb eines weiten Bereichs verändern und es somit an unterschiedliche Erfordernisse anpassen. Dazu Oesterhelt: „Die natürliche Schaltzeit des Retinals, eine Hundertstelsekunde, läßt sich zum einen physikalisch – über den pH-Wert – etwa um einen Faktor 100 in beide Richtungen verschieben. Das kann sogar während des Einsatzes im Zuge einer Messung geschehen, erlaubt also eine dynamische Anpassung des Filmmaterials.“

Eine andere Möglichkeit, den Retinalschalter zu beeinflussen, bietet dessen „ruckweiser“ Übergang von Violett nach Gelb: Wenn man dem ersten Lichtblitz, der ihn in Bewegung setzt, sofort einen zweiten – mit geeigneter Frequenz – hinterherschickt, dann durchläuft der Schalter nicht den gesamten Zyklus, sondern springt bereits von der ersten Zwischenstufe wieder in die Ausgangsstellung zurück.

Schließlich kann man das Bakteriorhodopsin gentechnisch, durch gezielte Mutationen, in seiner Struktur abwandeln und so seine Schaltgeschwindigkeit modifizieren. Mehrere solche gentechnische Varianten wurden bereits hergestellt – darunter eine, bei der das Retinal nicht selbstätig, sondern erst auf einen gesonderten Lichtbefehl hin wieder zurückspringt: Diese Variante das Bakteriorhodopsins kommt sowohl als Langzeit-Speicher für optische Informationen als auch für den Einsatz in einem optischen Computer in Frage. Ansonsten reichen die bislang verwirklichten Schaltzeiten von einer Zehntausendstelsekunde bis zu einigen Minuten; für denkbar hält Oesterhelt noch Zeiten bis hinab zu einer Milliardstelsekunde. Holographische Verfahren wie Mustererkennung und Interferometrie, so kann man sagen, haben im Bakteriorhodopsin jetzt den optischen Informationsträger gefunden, der ihnen technisch ebenbürtig ist.

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